Hinweis zum Datenschutz

4:45 Uhr August 2004 - der Wecker holt mich aus dem Tiefschlaf. Es ist noch dunkel draußen, der Gipfel der Kleinen Halt streckt seine Silhouette in den sternenklaren Himmel. Mit wenigen Handgriffen haben wir die bereitgelegten Sachen übergezogen und unsere Rucksäcke auf den Rücken geworfen. Wir schleichen uns aus der Kammer in die Küche des Hans-Berger-Hauses. Seit Jahren freuen wir uns immer wieder auf die unkomplizierte Gastlichkeit dieser Hütte. So wartet auch jetzt eine vorbereitete Frühstücksplatte auf uns. Schnell haben wir den Wasserkocher aktiviert und das Geschirr aufgedeckt. Der Kaffee mit viel Milch mobilisiert und wir essen uns am Tiroler Brot mit Speck und Käse satt. Nun wird es ernst. Wir legen die Klettergurte an, das Seil wird über den Rucksack gebunden und auf geht's, dem Einstieg der "Kaiserführe" entgegen. Fast 800 m Wand, laut Führer "ausgesprochen schöne Kletterei mit idealem Routenverlauf" warten auf uns. Es dämmert bereits - trotzdem brauchen wir die Stirnlampen, um nicht über die Wurzeln im Unterholz zu stolpern.

Den Zustieg zur Wand hatten wir im Frühjahr bereits erkundet und so stehen wir kurz nach 7:00 Uhr an den Standplatzhaken, die den Einstieg eindeutig markieren. Wir schauen hinauf und sehen uns an. Wir sind zuversichtlich - uns hat das Wollen ergriffen. Das Material an die Gurte gehängt und angeseilt. Frank macht noch ein Foto ... und dann ist's geschehen. Eine unachtsame Bewegung und die Digitalkamera folgt unbarmherzig den Grundgesetzen der Physik. Zunächst noch etwas unbeholfen doch dann in immer größeren Sätzen hüpft sie den Berg hinab. 40 m unter uns bleibt sie im Schutt liegen. Ich lege den Halbmastwurf in den Karabiner und lasse meinen Freund hinab, der schweren Herzens die Trümmerteile zu bergen versucht. 2m vor der Kamera hält er inne und fragt mich, wo sie denn nun ist. Erst jetzt bemerken wir, dass Frank ohne Brille hinunter ist. So kann er die Kamera nur noch zum größten Teil bergen. Der Speicherchip ist unauffindbar, womit die bereits gemachten Aufnahmen für immer verschollen bleiben. Fortan brauchen wir uns nicht mehr um Details der Bildgestaltung zu kümmern. Das ganze Unternehmen fängt jedenfalls gut an!

Nur schnell weg hier, denken wir und ich mache mich an die erste der insgesamt 27 Seillängen. Auf dem Schroffenpfeiler geht es in leichtem Gelände schnell hinauf und ich verpasse irgendwie die Standplatzhaken, die nach aktuellen Informationen allesamt eingebohrt sind. Unser 60m Seil ist aus und ich rufe Frank hinab, er soll doch nachkommen. So steigen wir am gestreckten Seil bis zum eigentlichen 2. Standplatz. Dort gehe ich in die Sicherung und Frank übernimmt nun den interessanter werdenden Teil. An einer hinaufziehenden Rippe kommt er an die erste 5er Stelle des Weges. Ohne Schwierigkeiten klettert er hinauf und holt mich nach. Jetzt befinden wir uns im ersten Hufeisen. Es folgen ein paar Meter Kletterei im 4er Bereich, die dann in den straffen 5er übergehen, jedoch mit Bohrhaken bestens abgesichert sind. Die letzten bedrückenden Magengrubengefühle verschwinden, unsere Bewegungen werden mit zunehmender Höhe sicherer und flüssiger. Jetzt beginnen 2 aufeinanderfolgende Seillängen im leichten Terrain und so gehen wir wieder am gestreckten Seil. Zunehmende Steilheit und Schwierigkeit lassen uns wieder in die Sicherung gehen. Frank steht auf dem Pfeilerkopf unterhalb des sperrenden 1.Dachriegels. Wie im Führer beschrieben, geht es an dem abdrängenden Wulst hinauf. Die ersten zwei Haken lassen sich gut einhängen, aber eine schnelle und saubere Lösung des vor mir liegenden klettertechnischen Problems fällt mir nicht ein. So fasse ich kurzerhand in den Haken und ziehe mich auf einen abschüssigen Tritt in der Wand. Das Körpergewicht ausbalancierend kann ich den Haken loslassen und die Steilrinne erreichen, die zum Standplatz leitet. 2 Stunden sind vergangen und wir haben 1/3 des Kletterweges hinter uns gelassen. Wir sind zufrieden.

Frank übernimmt und führt durch den 2. Dachriegel. Er geht die 60m Seillänge voll aus und kommt nicht bis zum übernächsten Standplatz. So baut er selbst eine Sicherung auf und holt mich nach. Ich übernehme das restliche Material und führe. Plötzlich stehe ich ganz schön blöd in brüchigem Fels. Über uns der stark überhängende 3. Dachriegel. Ich schiebe mich nach oben, wohl wissend, dass das nicht auf dem Originalweg geschieht. Wenige Meter unter den mächtigen Überhängen beschließe ich, Frank nachzuholen. Beim Platzieren eines Klemmkeiles entdecke ich einen geschlagenen Haken und sehe gleich darauf weiter links mehrere dieser Sorte. Also konnten wir nicht von der Route abgewichen sein. Nur der Weiterweg scheint versperrt. Ich hole Frank nach und wir suchen nach der Lösung des Problems. Da entdecken wir mitten auf einer Platte einen Bohrhaken. Demnach muss sich dort der Risskamin befinden, der den Durchstieg durch diese Wandzone vermittelt.

Ob der erkennbaren Schwierigkeiten guckt mich Frank an: "Du oder ich?" Es gibt keine Gnade, er muss da ran, denn Wechselführung ist bei solch langen Routen notwendig. Meine Bewährungsprobe sollte auch noch kommen. Wortlos übernimmt Frank die Keile, Schlingen und Karabiner und macht sich auf den Weg. Ungefähr 10 m Quergang nach links, relativ gut abgesichert mit mehreren Fichtelhaken bringen ihn zum Risseinstieg. Hier gilt es zunächst sehr ausgesetzt hineinzuklettern. Sein größter "Friend" gibt die nötige Sicherheit, um den Balanceakt zu wagen. Noch zwei kurze Züge und Frank klinkt den Bohrhaken. Wir sind erleichtert. Am Haken scheint es auch noch ganz gut vorbei zu gehen, denn der Freund verschwindet hinter der Plattenkante. Dann höre ich ihn fluchen. Ich sehe nur noch das linke Bein baumeln und verzweifelt nach einem Tritt suchen. Plötzlich sehe ich nach und nach Franks Körper wieder erscheinen. Wie auf einer Rutschbahn gleitet er am Fels hinab. Mir stockt der Atem und flink hole ich das ausgegebene Seil ein, immer in der Hoffnung, dass er doch nicht stürzt. Mein Flehen wird erhört, Frank kommt mit dem Fuß auf dem Haken zum Stehen. Mit einem wütenden Brüller drückt er sich wieder in den Riss und wagt es noch einmal. Ehrfurchtsvoll schaue ich dem im Überhang verschwindenden Seil hinterher. Ein Schrei zerfetzt die Stille: "Juchhu !!!" Er hat's geschafft.

Es folgen Minuten unendlichen Wartens, das Seil geht zu Ende und immer noch kein Standplatz. Als ich den letzten Meter Seil ausgegeben habe, baue ich meine Standsicherung ab und mache mich auf den Weg. Was bleibt mir anderes übrig, als mit Ungewissheit zu folgen. Ich bin mir sicher, dass Frank genügend Zwischensicherungen liegen hat, sodass ein Sturz in jedem Falle abgefangen wird, aber die schwierige Stelle ohne das beruhigende Gefühl "Von-oben-Gesichert" zu meistern, ist doch etwas beklemmend. Mit wenigen Zügen bin ich am Bohrhaken uns schaue in den Riss. Respektvoll gedenke ich den Erstbegehern dieser Route. Wenn man sich vorstellt, diesen Durchstieg erstmals zu erkunden und dann ohne Klemmmaschinen und Bohrhaken. Die Jungs damals waren eben noch aus anderem Holz geschnitzt! Das Ganze wäre sicher halb so schwer, wenn nicht der Kletterrucksack ein weiteres Hineingehen in den schulterbreiten Riss verhindern würde. Kompromisslos trete ich auf den Bohrhaken, habe plötzlich einen riesigen Griff in der Hand und denke bei mir: den lässt du nicht mehr los. Eigenartigerweise sind diese Griffe dermaßen ausgewaschen und dadurch scharfkantig, dass man sich die Hände aufreißt, wenn man nicht aufpasst. Ein kurzes Antreten an die Platte ermöglicht das Weitergreifen und dann erreiche ich den Griff, der Frank wohl zum Freudenschrei animiert hat. Die folgende Rippe ist einfach und bald stehe ich auf einem breiten Band bei Frank.

Wir trinken etwas und schieben uns einen Powerriegel rein. Im 2er und 3er Gelände geht es weiter nach oben. Das obere Hufeisen markiert die nächste Schwierigkeit. Der überhängende Einstieg auf die linke Rippe sieht von unten schwerer aus, als er sich dann klettert. Kurz darüber macht Frank Stand und holt mich nach. Wir befinden uns mitten auf der Haltplatte, einer riesigen, von unzähligen Rinnen durchfurchten Kalkplatte. Eben durch diese Rinnen geht es jetzt in ausgesetzter Reibungskletterei hinauf. Ohne mit der Wimper zu zucken, ziehe ich mich an einem Fichtelhaken über den Überhang. "Lieber zügig hinauf, als in Schönheit gestorben", ist die Devise. Der nun gut kletterbare Riss läuft aus, reichliche 2 Meter links von mir sehe ich einen Fichtelhaken. Dieser Haken leitet entsprechend unserer Toposkizze einen Pendel- oder Seilzugquergang ein. Mir ist jetzt absolut nicht nach Pendeln und so entschließe ich mich für den direkten Weg. Dieser führt durch zwei parallele, ungefähr 10 cm breite Rinnen, die durch eine griffige Wulst getrennt werden. Dieser Abschnitt ist ungefähr 8 Meter lang und nicht abzusichern. 2 Meter unter mir liegt ein 10x10mm großer Keil mit einer 5er Rebschnur drin. Da muss ich den Arsch ganz schön zusammenfitzen, um nicht das große Flattern zu kriegen. Meter um Meter ziehe ich mich an der Wulst empor, immer in der Hoffnung, dass die Griffe nicht schlechter werden, denn die Füße stehen nur auf Reibung in den Rinnen. Durch die Beine sehe ich etliche hundert Meter unter mir den Unteren Scharlinger Boden. "Nur nicht die Nerven verlieren, es gibt immer eine Lösung, Uwe!", höre im mich murmeln. Auch jetzt, denn ich habe das Ende der Rinnen erreicht und greife erleichtert an die Felskante des breiten Risses, in den man weiter unten hätte hineinpendeln können. Ich schwinge mich hinein und stehe an den Bohrhaken des Standplatzes.

Frank kommt grinsend zu mir hinauf und meint: "Das war doch noch mal ein verdammt anspruchsvoller Abschnitt, was? Aber jetzt ist's gelaufen!" Ja, ja denke auch ich. Mittlerweile schmerzen die eingepferchten Füße. Man hat das Gefühl, barfuss zu gehen, denn die feinen Rippen des Kalksteines drücken sich schmerzhaft durch die Klettersohle. Ohne Eile queren wir ansteigend mal nach rechts und dann wieder nach links und kommen zur Verschneidung, die zur letzten 5er Stelle des Weges führt. Ich habe dermaßen Seilzug, dass ich 5 m unter den deutlich sichtbaren Haken aufgebe und beschließe, Frank am Zwischenhaken nachzuholen. Der kommt zügig nach, übernimmt das Material und macht sich an die Arbeit. Irgendwann höre ich ihn Fragen: Wieviel Seil noch?" und abschätzend rufe ich zurück: "10, 15 Meter!" Es dauert eine Weile, ehe sich das Seil wieder in Bewegung setzt, aber dann kommt der Ruf "Stand!" Ich baue ab und eile hinterher. Beim Klettern denke ich so, na, dass ist doch keine 5 mehr hier, das geht doch Klasse. Gerade noch gedacht, stehe ich im Kamin der mit einem riesigen Wulst versperrt wird. Na, da iss' es ja. Ich frage Frank, der wenige Meter über mir am Haken hängt, wie er's denn angegangen ist. Doch noch ehe er mit seinen ausführlichen Beschreibungen endet, stehe ich neben ihm. Nunmehr noch 2 Seillängen im 2 bis 3er Bereich. Die spulen wir wieder am gestreckten Seil ab, weil ich die dazwischen liegenden Standplatzhaken nicht finden kann. Es ist fast 16:00 Uhr, als wir auf dem Grat stehen und das Gipfelkreuz der Kleinen Halt unweit sichtbar wird. Wir befreien unsere Füße und gehen die letzten Meter hinüber. Fast 9 Stunden Kletterei - wir fragen uns, wo wir denn die Zeit verbummelt haben, denn das 1. Drittel hatten wir doch zügig abgespult. Einhellig sind wir der Meinung, nach dem dritten Dachriegel das Tempo unbewusst vermindert zu haben. Wir werfen uns nichts vor, es war eine erstklassige Tour und es bleibt immer noch genügend Zeit für den langen Abstieg.

Das war die Durchsteigung einer der längsten und lohnenden Anstiege im Wilden Kaiser, nicht mehr und nicht weniger.